Es war einmal… ein Mensch. Wir kennen ihn nicht, und sein Geschlecht und Alter sind ohne Belang. Es könnte jeder sein. Der Einfachheit halber sage ich, es ist ein Mann.

Dieser Mann hatte in seinem Leben Schlimmes erlebt. Eines Morgens erwachte er und fühlte sich so grässlich, dass er sich in einen tiefen finsteren Brunnen zurückzog. Dort blieb er für lange Zeit und teilte sein Leid mit niemandem. Eines Tages überlegte er, ob es Zeit wäre an die Oberfläche zurückzukehren. Doch er wusste nicht wie. Niemand hatte ihm gesagt, wie er aus seinem finsteren Loch wieder hinauskäme.

Da erblickte er hoch über sich am Brunnenrand ein helles Licht. „Hallo!“, rief er in der Hoffnung auf Hilfe. Ein strahlendes Gesicht erschien, umgeben von hellem Lichtschein. „Wer bist du?“, rief der Mann von unten hinauf.

„Ich bin eine lichtvolle Seele“, antwortete das Wesen.

„Kannst du mir helfen? Ich möchte gern zurück ins Leben.“

„Sehr gern.“ Die lichtvolle Seele zückte ein Notizbuch und fing an, allerlei Wahrheiten weiser Meister zu rezitieren, die es in seinem Leben zusammengesammelt hatte. Seine Sprache war wunderbar, sein Licht strahlte nach allen Seiten, doch erreichte nicht den tiefen Boden des Brunnens.

Der Mann hörte aufmerksam zu. Die Sprüche gefielen ihm gut und bestimmt erfreuten sie andere lichtvolle Seelen und erinnerten sie daran, wie sie auf dem Pfad des Lichts bleiben konnten, doch sie konnten ihm keine Lösung bieten, wie er den Schatten verlassen sollte. „Kannst du bitte einfach eine Leiter oder ein Seil herunterlassen?“, fragte der Mann zaghaft.

Die lichtvolle Seele zögerte. „Nun, ich habe keine dabei. Komm doch einfach herauf.“

„Es hängt zu viel schweres Leid an mir. Ich habe Schuldgefühle, verurteile mich, wurde tief verwundet und ich bin so traurig und enttäuscht und da ist diese Angst und so viel Wut…“ Der Mann ballte die Faust.

Das Gesicht des lichtvollen Wesens verzog sich vor Entsetzen. „Halt ein. Bitte schweig still, deine tiefschwingenden Worte verunreinigen das Licht der Neuen Erde.“ Verdutzt hielt der Mann im Brunnen inne und schwieg. Von einer Neuen Erde hatte er noch nie gehört. „Du schaffst das,“ fuhr die lichtvolle Seele fort. „Ich sage nur: Selbstliebe. Denk an meine Worte. Gibst du mir ein Like?“

Da der Mann stumm verharrte, verschwand die lichtvolle Seele schließlich aus seinem Blick. Stunden später erschien eine andere Gestalt am Brunnenrand. Sie war gebeugt und bewegte sich langsam, als trage sie eine schwere Last. Da war kein strahlendes Licht um diese Seele herum und doch schimmerte sie auf eine sonderbare Art. „Hm“, dachte der Mann, „der da oben ist so krumm wie ein alter Baum, der wird mir kaum helfen können.“ Dennoch rief er hinauf: „Wer bist du?“

Der Alte warf einen Blick in den Brunnen und lächelte. „Ich? Ich bin der verwundete Heiler.“

„Ach, wie kann ein Heiler denn verwundet sein? Kannst du dir nicht selbst helfen?“

„Doch. Mein krummer Rücken bedeutet nur, dass ich aus eigener Erfahrung um das Leid weiß, das andere bedrückt. Aber sag, was machst du da unten?“

„Ich möchte gern hinaus. Aber ich weiß nicht wie. Meine Last ist so schwer.“

Der verwundete Heiler nickte. „Was ist das für eine Last, die dich plagt?“

Der Mann überlegte, ob er die tiefschwingenden Worte gebrauchen durfte, welche die lichtvolle Seele ihm so vehement verboten hatte. „Nun ja,“ stotterte er herum.

„Sprich dich ruhig aus“, ermunterte ihn der verwunderte Heiler. „Was du hinterschluckst, an dem wirst du ersticken.“

„Ja, das ist wahr“, antwortete der Mann und fühlte sich sofort verstanden. Aus seinem Mund sprudelte alles heraus, was er durchgemacht hatte und was ihn erdrückte. Während er so sprach, sah er, wie der Alte in Mitgefühl nickte, manchmal ein leidvolles, manchmal ein verständnisvolles Gesicht machte. Als der Mann zuletzt in das lächelnde Gesicht über sich blickte, schien er zu wachsen. Plötzlich brauchte er nur die Arme auszustrecken und konnte den Brunnenrand erreichen. Und er war auf einmal so leicht geworden, dass er sich ohne Anstrengung herausziehen konnte.

Erfreut dankte der Mann dem Heiler.

„Danke nicht mir“, sagte der Alte. „Du hast dir selbst geholfen. Du hast das Leid losgelassen und als du leicht genug warst, konntest du vergeben. Das ist Heilung.“

„Aber doch nur, weil du mir zugehört hast. Du hast gar keine schönen Sprüche zitiert, und während ich dir erzählte, da ist mir die Lösung irgendwie selbst eingefallen.“

Der verwundete Heiler nickte. „Ich verstehe, was du meinst. Ich habe das selbst schon erlebt. Die Worte eines Meisters sind schön für jene, die keine eigenen finden. Du bist an deinem Leid gewachsen, als du es mit jemandem teilen konntest. Das nennt sich unmittelbare Selbsterfahrung.“

Da fiel dem Mann ein, dass er tiefschwingende Worte gebraucht hatte. „Wird das dem Licht schaden? Oder dir? Trägst du nun meine Last auf dem Rücken?“

Der Heiler schüttelte den Kopf. „Sei beruhigt. Während ich dir zugehört habe, habe ich Mutter Erde und Vater Himmel gebeten, die Schwingungen umzuwandeln. Du hast sie ja in der Absicht ausgesprochen, dich davon zu befreien, denn in deinem Inneren konnten sie ja nicht bleiben.“

 

Jeder von uns kann Heiler sein. Oft reicht es aus, mit gefühlvollem Herzen zuzuhören. Nicht, um die Last des anderen zu tragen oder um Lösungen zu finden. Sondern, um einfach da zu sein und zu verstehen.

Geistwanderin

 

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